Vor etwa einem Jahr sind wir nach Deutschland gekommen, und schon bald darauf musste meine Tochter die örtliche Grundschule in unserem Sprengel besuchen. Als meine Ex-Frau und ich sie am ersten Tag zur Schule brachten und danach gemeinsam nach Hause gingen, sagte ich zu Liza, dass es in dieser Schule für unsere Tochter Probleme geben wird. Liza schaute mich fragend an. Auf den ersten Blick beträgt der Ausländeranteil in dieser Schule 60-70%, und das sind keine alteingesessenen Migranten, die schon seit Generationen in Deutschland leben, sondern größtenteils Kinder von Flüchtlingsfamilien. Das birgt viel Konfliktpotenzial auf verschiedenen Ebenen.
In der Klasse meiner Tochter gibt es 4 deutsche Kinder (von 24). Alle anderen haben einen Migrationshintergrund. Im letzten Jahr gab es mehrere Vorfälle von Gewalt in der Klasse, und meine Tochter kam mit blauen Flecken und am Ende des Jahres sogar mit einer Rippenprellung nach Hause. Der Elternbeiratsvorsitzende erzählte mir am Ende des Schuljahres von einem Gewalt- und Konfliktproblem an unserer Grundschule, das gelöst werden muss. Er bat mich an die Schulleitung und die Schulbehörde zu schreiben. Die Antwort ließ auf sich warten und war, sagen wir mal, unbefriedigend.
Gestern hatte ich als Klassenelternsprecher meiner Klasse einen Teamcall mit den anderen Klassenelternsprechern, dem neuen Elternbeirat und der neuen Schulleitung. Sie sehen die COVID-Zeit zu Hause als eine der Hauptursachen für das Gewaltproblem an unserer Schule. Das Problem sei ein generelles Problem an bayerischen Schulen und nichts Außergewöhnliches. Eine Folge der Lockdowns. Die Schulleitung stellte ihr Lösungskonzept vor und möchte sogar eine echte Friedensbrücke bauen lassen.
In der folgenden Fragerunde wollte ich wissen, ob man sich Gedanken über die Ursachen des Problems gemacht habe. Es folgte ein verständnisloses Schulterzucken. Könnte eine Ursache Medienkonsum sein? Wie wäre es mit Schulungen in Medienkompetenz?, fragte ich. Schulterzucken. Man muss ja irgendwo anfangen, meinte die Schulleiterin.
Aber das Problem könnte ein ganz anderes sein…
Mein Großvater war im Zweiten Weltkrieg unter anderem an der Landung in Kreta beteiligt, bei der die Wehrmacht 6900 Gefallene zu beklagen hatte. 1947 wurde meine Mutter geboren. Er schlug sie und meine Großmutter regelmäßig und hatte oft ein sehr aufbrausendes Temperament oder eine „kurze Lunte“, wie es jemand aus dem Elternbeirat unserer Schule kürzlich in Bezug auf einen aggressiven Schüler nannte.
1989 lernte ich während meines Dienstes an der innerdeutschen Grenze bei gemeinsamen Patrouillen an der Grenze einen US-Soldaten kennen, und wir freundeten uns an. Der Puerto-Ricaner Mike Alvarez war Unteroffizier und Panzerkommandeur beim 2/2 Cavalry Regiment der US Army. Er war ein sehr lebensfroher Mensch, der bei jeder Gelegenheit lachte, sang und gerne auch mal ein Latino-Tänzchen aufführte. Sergeant Alvarez nahm seinen Job sehr ernst, das Leben dafür umso weniger. Frohnatur würde diesen Mann treffend beschreiben. Er hatte damals eine Tochter und einen Sohn. Anfang 1991 musste Mike in den Irakkrieg ziehen und war 9 Monate weg. Währenddessen wurde sein drittes Kind geboren, und ich habe mich in der Zwischenzeit um seine Familie in Deutschland gekümmert. Als Mike zurückkam, war er ein anderer Mensch. Er lachte nicht mehr und starrte oft nur stumm vor sich hin. Es dauerte eine Weile, bis Mike sich mir öffnete und mir erzählte, was er Schreckliches erlebt und gesehen hat. Seine Einheit, das 2. Kavallerie-Regiment, war die Speerspitze der US-Invasion des Iraks und an vorderster Front in der ersten Linie eingesetzt. Ich möchte die Szenen, die er beschrieb, nicht teilen.
Ein paar Jahre später war Mike wieder in den USA. Er konnte seinen Militärdienst nicht weiterführen und stieg aus. Wir blieben in Kontakt, und ich beschloss, ihn spontan zu besuchen, als ich wieder einmal in den USA war. Ich fand einen Alkoholiker mit einer kaputten Familie. Die jüngeren beiden Kinder waren komplett gestört. Sein Sohn hatte Probleme in der Schule, unter anderem mit Gewaltausbrüchen gegen Mitschüler. Die 5-jährige jüngste Tochter setzte sich neben mich auf die Couch und starrte mich stumm an. Als ich sie fragte, was denn los sei, antwortete sie, dass sie aufpassen müsse, dass kein Blut aus meinem Ohr laufe.
Am 11. September 2001 stand ich nicht weit vom World Trade Center auf der Straße und sah, wie Menschen in den Tod sprangen. Irgendwann kollabierte der Nordturm. Die Menschen um mich herum flippten aus. Einige saßen heulend auf dem Bürgersteig. Andere schrien hysterisch. Andere lagen mitten auf der Straße und klopften mit beiden Händen auf den Asphalt. Ich hatte mehrere Freunde im Gebäude. Einer davon war bei Cantor Fitzgerald, der Firma, die 95% ihrer Angestellten an diesem Tag verlor. Auch er verlor sein Leben an diesem Tag. Wahrscheinlich sprang er auf der Flucht vor den Flammen in den Tod.
Ich weiß, wie sich PTBS anfühlt, obwohl ich im Gegensatz zu anderen nur geringfügiges erlebt habe. Ich habe Jahre gebraucht, um das Gesehene (und Gefühlte) zu verarbeiten. Zweiundzwanzig Jahre danach bin ich immer noch nicht durch damit.
Nun zu unserer Grundschule, einem Hotspot, wie es der Laimer Kinderarzt treffend nannte, der meine Tochter untersuchte, nachdem 5 Jungs auf sie losgegangen sind und sie noch in die Rippen und den Bauch traten, als sie schon lange heulend am Boden lag. Alle fünf haben „Migrationshintergrund“. Einer kommt aus dem Irak, einer aus Kurdistan (Nordirak oder Syrien), der andere aus Syrien, die zwei weiteren aus Ex-Jugoslawien. Allesamt Kriegsschauplätze.
Ein anderes Mal kommt meine Tochter mit blauen Flecken nach Hause. Der Junge, der meine Tochter getreten hat, kommt aus Afghanistan. Sein Vater ist gestorben. Wer weiß, was dessen Familie durchgemacht hat? Das sind 6 Kinder unserer Schule, die über den Maßen aggressiv geworden sind. Ich kenne die anderen Schüler und deren Geschichten nicht und will keine voreiligen Rückschlüsse ziehen (und stelle trotzdem eine These auf).
Wir haben Russland wegen des Krieges verlassen, weil Putin meiner Meinung nach ein Faschist ist. Weil man in der russischen Schule meiner Tochter plötzlich Propaganda unterrichtet hat und ihr sagte, dass Deutschland und der Westen schlecht sind. Weil man nicht mehr seine Meinung sagen konnte, ohne dass man sich vor dem FSB (dem Äquivalent der Stasi) fürchten musste. Ich bin auch deswegen gegangen, weil ich Angst vor dem hatte, was die Soldaten zurück mit nach Hause bringen. Das Grauen, welches sie erlebt haben.
Blöderweise habe ich eine Wohnung in einem Münchner Stadtteil gefunden, in welchem viele Familien leben, die vor den Grauen des Krieges davongelaufen sind und Schlimmes durchgemacht haben. Viele tragen das Erlebte auch Jahre danach noch mit sich herum und bekommen keine professionelle Hilfe, denn wir verwöhnten Westler schauen naiv mit unseren Augen auf die Ursachen derer Probleme und sehen das Leid gar nicht.
Ich weiß nicht, ob „Brückenbauen“ diesen Familien hilft, mit den Traumata der Vergangenheit umzugehen… „aber irgendwo muss man ja anfangen“… Just my 5 Cents. Man sagt ja nichts, man redet ja nur, sagen wir in Bayern.