Der Sturz des Assad-Regimes markiert eine historische Zäsur in Syrien – ein Moment, der genauso viel Unsicherheit wie Hoffnung mit sich bringt. In den letzten Tagen hat die Miliz Hayat Tahrir al-Scham (HTS), eine einst mit al-Qaida verbundene Gruppe, erhebliche Gebiete erobert und die Kontrolle über Damaskus übernommen. Damit ist ein Machtvakuum entstanden, dessen Folgen nicht nur für Syrien, sondern für die gesamte Region und darüber hinaus von enormer Tragweite sind.
Die Frage, wie es mit Syrien weitergeht, ist nicht leicht zu beantworten. Die komplexe Mischung aus religiösen, ethnischen und politischen Gruppierungen macht das Land zu einem Pulverfass. Der Aufstieg der HTS weckt dabei sowohl Hoffnungen auf einen Wandel als auch Ängste vor einer radikalisierten Zukunft.
HTS: Ein neues Regime oder alter Extremismus?
Hayat Tahrir al-Scham gibt sich gemäßigt und spricht von einem freien und geeinten Syrien. Doch die Vergangenheit der Gruppe, die tief in die Strukturen von al-Qaida verwoben war, lässt Zweifel aufkommen. Zwar distanzierte sich HTS offiziell von der Terrororganisation und präsentiert sich heute als nationale Bewegung, die für die Befreiung Syriens eintritt, doch wie glaubwürdig ist diese Wandlung?
Die Eroberung von Damaskus und anderen Gebieten zeigt ihre militärische Stärke, aber die Frage bleibt: Kann HTS ein Land regieren, das so zerrissen ist wie Syrien? Historische Parallelen zur Herrschaft der Taliban in Afghanistan drängen sich auf. Ein Regime, das auf einer extremen Auslegung des islamischen Rechts basiert, könnte Frauen und Minderheiten wie Christen und Alawiten ins soziale und rechtliche Abseits drängen.
Ein zerrissenes Land: Sunniten, Schiiten und Kurden
Syrien ist seit jeher ein Land der Vielfalt, was es gleichzeitig reich und zerbrechlich macht. Die religiöse Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten prägt den Konflikt seit Jahren. Während Sunniten die Mehrheit der Bevölkerung stellen und HTS aus dieser Gruppe hervorgegangen ist, sind Schiiten – einschließlich der Alawiten, der Religionsgemeinschaft von Assad – eine Minderheit, die oft marginalisiert wurde. Der Machtwechsel in Damaskus könnte die ohnehin fragilen Beziehungen zwischen diesen Gruppen weiter belasten.
Hinzu kommen die Kurden, die nach wie vor etwa ein Drittel des Landes kontrollieren. Ihre Forderung nach Autonomie oder einem unabhängigen Kurdistan könnte zu einem neuen Konflikt führen – sowohl mit dem neuen Regime als auch mit der Türkei, die eine kurdische Eigenständigkeit an ihren Grenzen strikt ablehnt. Ein weiteres Aufflammen der Gewalt scheint nahezu unvermeidlich.
Der Schatten internationaler Akteure
Die Türkei und Katar haben über Jahre hinweg verschiedene Gruppen in Syrien unterstützt, oft mit dem Ziel, ihre eigenen geopolitischen Interessen zu sichern. Beide Länder könnten versuchen, ihren Einfluss auf das neue Regime auszuweiten. Doch HTS hat bislang keine klare Position dazu bezogen, wie sehr sie sich von äußeren Akteuren beeinflussen lassen wird. Eine zu große Nähe zu Ankara oder Doha könnte ihre Glaubwürdigkeit bei den Syrern untergraben, die sich nach Jahren des Krieges vor allem nach Unabhängigkeit und Stabilität sehnen.
Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist der Islamische Staat (IS). Wird HTS den IS bekämpfen oder tolerieren? Ein erneutes Erstarken des IS würde nicht nur Syrien destabilisieren, sondern auch den internationalen Kampf gegen den Terrorismus zurückwerfen. Es ist unklar, ob HTS in der Lage ist, sich gegen eine solche Bedrohung durchzusetzen.
Frauen und Minderheiten: Die großen Verlierer?
Die Frage, wie Frauen und Minderheiten unter einem HTS-Regime leben werden, ist von zentraler Bedeutung. Historisch gesehen waren islamistische Bewegungen selten tolerant gegenüber Andersgläubigen oder emanzipierten Frauen. Sollte HTS ein striktes islamisches Recht durchsetzen, könnten die Fortschritte, die syrische Frauen in der Vergangenheit gemacht haben, zunichtegemacht werden. Christen, Alawiten und andere Minderheiten könnten entweder gezwungen werden, das Land zu verlassen, oder in eine rechtliche und gesellschaftliche Unterdrückung gedrängt werden.
Szenarien für die Zukunft
Die möglichen Zukunftsszenarien für Syrien sind vielfältig, aber keines davon ist ohne Herausforderungen. Ein Zusammenbruch des Landes in einen weiteren Bürgerkrieg scheint ebenso denkbar wie die Bildung eines radikal islamischen Staates. Ein unabhängiges Kurdistan könnte die Landkarte des Nahen Ostens dauerhaft verändern, doch die politischen Kosten wären hoch.
Ein geeintes Syrien unter HTS erscheint derzeit wenig realistisch. Die tiefen Gräben zwischen den verschiedenen Gruppen und die historischen Spannungen lassen Zweifel aufkommen, ob eine Versöhnung möglich ist. Eine weitere Zersplitterung des Landes könnte die einzige Option sein, aber auch dies birgt Risiken.
Auswirkungen auf die Region und die Welt
Ein instabiles Syrien hat massive Konsequenzen für die gesamte Region. Die Nachbarländer wie Israel, der Libanon und Jordanien stehen vor der Herausforderung, mit einem möglicherweise radikalisierten Syrien umzugehen. Der Konflikt zwischen Israel, der Hamas, der Hisbollah und dem Iran könnte durch die Entwicklungen in Syrien weiter verschärft werden.
Auch Europa wird die Folgen spüren, sei es durch neue Flüchtlingsströme oder durch Sicherheitsrisiken. Die Türkei, die selbst stark in den syrischen Konflikt verwickelt ist, könnte noch stärker unter Druck geraten, sowohl innenpolitisch als auch an ihren Grenzen.
Hoffnung inmitten des Chaos?
Obwohl die Lage düster erscheint, gibt es auch Hoffnung. Die Tatsache, dass HTS zumindest den Anspruch erhebt, ein gemäßigtes Regime aufzubauen, könnte ein erster Schritt sein. Doch die internationale Gemeinschaft muss wachsam bleiben. Nur durch Druck und Unterstützung kann sichergestellt werden, dass Syrien nicht erneut in Chaos und Gewalt versinkt.
Heimkehr?
Obwohl die Türkei derzeit die Nähe zu Hayat Tahrir al-Scham (HTS) sucht und hofft, die über 3,2 Millionen syrischen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückführen zu können, bleibt dies unwahrscheinlich, solange Syrien keine stabile Regierung hat und der Wiederaufbau nicht voranschreitet. Ähnliches gilt für die rund 75.000 syrischen Flüchtlinge in Deutschland . Niemand wird in ein Land zurückkehren wollen, dessen Zukunft ungewiss ist und in dem Sicherheit und Lebensgrundlagen nicht gewährleistet sind.
Ein Blick über den Horizont
Die Frage, wer oder was hinter den Ereignissen in Syrien steckt, ist eine, die uns alle betrifft. Sind es äußere Mächte, die hier die Fäden ziehen? Oder ist es das Resultat eines komplexen historischen Prozesses, der sich unaufhaltsam seinen Weg bahnt? Sicher ist, dass die kommenden Monate entscheidend sein werden – nicht nur für Syrien, sondern für die gesamte Region.
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