Heute, am 1. Juli 2025, jährt sich zum hundertsten Mal der Todestag von Erik Satie – jenem skurrilen Genie, dessen sparsames Klavierspiel und witzige Notationen bis heute fesseln. Gönn dir ein Glas Calvados dazu, denn dieser Mann verdient mehr als bloß Bach im Hintergrund. Absinth war sein Getränk – und Bier – doch wir wissen: Zuviel davon führt unweigerlich in Richtung Leberzirrhose. Satie war tatsächlich zeitlebens ein starker Trinker und starb 1925 mit nur 59 Jahren an den Folgen. Also lieber maßvoll genießen – sonst landest du womöglich, wie Satie, am Ende in der Klinik.
Vom Landjungen zum Pariser Provokateur
Geboren 1866 in Honfleur als Eric Alfred Leslie Satie, verbrachte er seine Kindheit teils auf dem Land in der Normandie. Früh zog es ihn nach Paris, wo er als Elfjähriger am renommierten Conservatoire aufgenommen wurde – doch die Ausbildung verlief desaströs. Satie war schlicht kein Musterschüler: Seine Lehrer bezeichneten ihn als „begabt, aber faul“ und bald sogar als „faulsten Schüler des Konservatoriums“. Ohne Diplom wurde er letztlich hinausgeworfen. Doch das hinderte ihn nicht daran, im kreativen Milieu Montmartres Fuß zu fassen. In den späten 1880ern arbeitete Satie als Pianist im berühmten Kabarett Le Chat Noir, wo er die Bohème mit Chansons begleitete. Hier entstanden auch seine ersten Kompositionen – etwa die drei Gymnopédies (1888) und die frühen Gnossiennes (ab 1889) –, kleine Klavierstücke, faszinierend in ihrer meditativen Einfachheit und fern jeder konservatorischen Virtuosität. Diese unscheinbar-zenhaften Miniaturen, „so alt wie Sand und doch merkwürdig zeitgenössisch“ beschrieben , legten den Grundstein für Saties Ruf als unkonventioneller Provokateur in der Musikwelt.
Künstlerische Rollen & seltsame Outfits
Satie liebte die Verwandlung – künstlerisch wie optisch: Zunächst sah man ihn als zotteligen Bohemien mit langem Haar und Zylinderhut in den Montmartre-Jahren. Um 1891/92 schloss er sich kurzzeitig einer mystischen Rosenkreuzer-Sekte an und stilisierte sich zum Priester, der sogar eine eigene Kirche gründete (die Église Métropolitaine d’Art de Jésus Conducteur) – in dieser Église war er übrigens der einzige „Gläubige“. Wenige Jahre später folgte die nächste Metamorphose: Satie avancierte zum selbsternannten „Samtherrn“, auf Französisch “le velvet gentleman”. Ab 1895 trug er täglich einen von sieben identischen, maßgeschneiderten Anzügen aus grauem Samt – eine Woche voller Eleganz, jeden Tag der gleiche Look. Diese dandyhafte Gewohnheit verschaffte ihm seinen Spitznamen und wurde zu seinem Markenzeichen. Und schließlich, in den 1910er und 20er Jahren, zeigte er sich plötzlich betont bieder: Er wandelte im schwarzen Anzug mit steifem Kragen, Melone auf dem Kopf und stets einem Regenschirm unterm Arm durch Paris. Kaum zu glauben, aber in seiner winzigen Wohnung hortete er am Ende tatsächlich rund einhundert Regenschirme – Relikte eines exzentrischen Lebensstils, die man nach seinem Tod überall im Zimmer fand.
Seine kuriosen Outfits waren allerdings mehr als bloße Gags. Sie spiegelten Saties Rebellion gegen Konventionen wider. Er verweigerte sich konsequent den Erwartungen – stets stilvoll gekleidet, aber eben gegen den Strom. Man könnte sagen: Satie war ein Punk lange bevor es Punk gab, ein Nonkonformist der Belle Époque, der mit Äußerlichkeiten und Identitäten spielte, um seine Unabhängigkeit zu demonstrieren.
Die eine Liebe: Suzanne Valadon
1893 traf Satie auf Suzanne Valadon – die einzige große Liebe seines Lebens. Valadon, eine talentierte Malerin (und ehemalige Zirkusakrobatin), verdrehte dem Komponisten sofort den Kopf. Gleich nach der ersten gemeinsamen Nacht machte er ihr einen Heiratsantrag. Sie bezog zwar vorübergehend ein Zimmer in unmittelbarer Nachbarschaft zu Satie in Montmartre, doch die leidenschaftliche Affäre dauerte nur fünf, sechs Monate. Satie war hingerissen und nannte sie zärtlich „sein Biqui“, träumte von einer gemeinsamen Zukunft. Doch Valadon suchte bald das Weite und zog fort, was Satie in am Boden zerstört zurückließ. Um seinen Kummer zu bewältigen, komponierte er in dieser Zeit die Danses gothiques – neun kurze „gotische Tänze“, deren strenge, ruhige Schönheit wie eine Gebetsmeditation wirken. Dieses Werk diente ihm der Legende nach als seelische Therapie, um „seinen Geist zu beruhigen“. Jahre später bemerkte Satie bitter, nach Valadons Abschied sei ihm „nichts geblieben als eine eisige Einsamkeit, die den Kopf mit Leere und das Herz mit Traurigkeit füllt“. Diese einzige Liebesepisode prägte den sonst so zurückhaltenden Einzelgänger zutiefst.
Künstlerfreundschaften: Cocteau, Debussy, Picasso
Mit seinem unkonventionellen Stil und Lebenswandel wurde Satie rasch zum Mittelpunkt einer Clique avantgardistischer Künstler im Paris der Jahrhundertwende. Junge Komponisten wie Claude Debussy und Maurice Ravel zählten früh zu seinen Bewunderern. Debussy schätzte Saties „mittelalterliche“ Klangpoesie so sehr, dass er zwei der Gymnopédies 1897 für Orchester instrumentierte und Saties Namen damit erstmals in die Konzertsäle brachte. Ravel wiederum setzte sich 1911 dafür ein, Saties längst vergriffene Frühwerke wieder aufzuführen – ein Konzert im Januar 1911, bei dem Ravel Saties Klavierstücke spielte, machte den schrulligen Außenseiter mit einem Schlag in Paris bekannt. Endlich erntete Satie im Alter von Mitte 40 die Anerkennung, die ihm zuvor verwehrt geblieben war. Dennoch blieben die Beziehungen kompliziert: Debussy und Satie waren zwar rund 30 Jahre lang befreundet, foppten einander aber gern. 1917 – ausgerechnet während der Proben zu Saties Ballett Parade – kam es zum Zerwürfnis, als Debussy sich spöttisch über Saties Werk äußerte. Satie brach daraufhin gekränkt den Kontakt ab, und leider erfolgte keine Versöhnung mehr vor Debussys Tod 1918. Mit Ravel verband Satie zeitweise ein herzliches Verhältnis, doch auch hier flogen später die Funken: Als Ravel 1920 einen Orden der Ehrenlegion ablehnte, ätzte Satie in gewohnt sarkastischer Manier, „mein Freund Ravel lehnt die Ehrenlegion ab, aber all seine Musik hat sie bereits akzeptiert“. Solche bonmotartigen Sticheleien verdeutlichen Saties schwieriges Verhältnis zu einstigen Weggefährten – doch selbst wenn die Freundschaften litten, Saties Einfluss auf die französische Musik war unumstritten. Besonders die jüngere Komponistengruppe Les Six (darunter Poulenc und Milhaud) wurde von seinem anti-romantischen Geist nachhaltig geprägt. Jean Cocteau erklärte Satie gar zum Leitstern für diese „jungen Wilden“ der 1920er, auch wenn Satie selbst mit solchen Schülerrollen kokettierend-distanziert umging.
Ab 1915 weitete Satie seinen Freundeskreis über die Musik hinaus aus. In jenem Jahr lernte er den Dichter und Lebenskünstler Jean Cocteau kennen – der Beginn einer fruchtbaren Kollaboration zwischen Musik, Literatur und bildender Kunst. Gemeinsam mit Cocteau, dem spanischen Maler Pablo Picasso und dem Choreografen Léonide Massine schuf Satie 1917 das Ballett Parade. Produziert von Sergei Diaghilevs legendären Ballets Russes, geriet Parade zu einem waschechten Skandalstück der Avantgarde: In dieser „kubistischen“ Ballett-Revue treten Zirkusartisten auf, begleitet von einem Orchester, das Alltagsgeräusche imitiert – Schreibmaschine, Nebelhorn, Pistolenknall inklusive. Das Publikum der Uraufführung reagierte teils empört: Pfiffe und Gelächter mischten sich mit Applaus, die Presse war gespalten. Der Dichter Guillaume Apollinaire prägte in seinem Programmheft den Begriff „surrealistisch“ für Parade – Jahre bevor der Surrealismus als Kunstrichtung offiziell geboren wurde. Satie und Cocteau landeten wegen Beleidigung eines Kritikers sogar kurzzeitig vor Gericht (Satie hatte einem nörgelnden Musikkritiker eine Postkarte mit der Anrede „Sehr geehrter Herr – Sie sind ein Arschloch ohne Musik!“ geschickt und wurde dafür zu acht Tagen Haft verurteilt ). Doch all die Aufregung zahlte sich aus: Parade gilt heute als Meilenstein der modernen Bühnenkunst, als frühes Crossover von klassischer Musik, Jazz, Geräuschkunst und zeitgenössischem Design – ein „surrealer“ Triumph seiner Zeit.
Auch jenseits solcher großen Projekte blieben Saties Künstlerfreundschaften bedeutsam. Selbst in seinen letzten Lebensmonaten wichen einige enge Weggefährten nicht von seiner Seite. So ist überliefert, dass Picasso Satie im Krankenhaus besuchte und ihm dort fürsorglich die zerwühlten Laken glattstrich. Es sind Gesten wie diese, die zeigen, welch besondere Zuneigung sich der exzentrische Komponist im Kreis seiner Freunde erworben hatte – Freundschaften, die sogar Saties letzte Tage erhellten.
Sein musikalischer Stil – und „Punk“ in der Partitur
Saties Schaffen durchlief mehrere stilistische Phasen, doch eines blieb stets konstant: sein rebellischer Geist. Er ging entschieden eigene Wege und machte Musik oft mit ironischem Augenzwinkern, ganz entgegen der opulenten Klangästhetik seiner Zeitgenossen (die bombastischen Werke eines Wagner verspotteten Satie und Debussy gerne scherzhaft als „Sauerkraut“). Ein kurzer Überblick über einige Satie-typische Eigenheiten:
- Frühe Einfachheit: In den Trois Gymnopédies und Gnossiennes (1888–1893) pflegte Satie einen bewusst schlichten, archaisch anmutenden Klavierstil. Die Stücke sind kurz, schwebend und verzichten auf romantischen Überschwang – stattdessen beruhen sie auf einfachen, sich wiederholenden Melodien und unresolved Harmonien, die eine fast zeitlose Stimmung erzeugen. Diese klangliche Zurückhaltung – von einem Kritiker poetisch als „so alt wie antiker Sand und doch modern“ beschrieben – machte Satie zu einem Wegbereiter der Minimal Music, lange bevor es den Begriff gab.
- Surrealer Humor in Noten: Schon früh mischte Satie absurde Komik in seine Werke. Er erfand schräge Titel wie Véritables préludes flasques (pour un chien) – „Wahrhafte schlaffe Präludien (für einen Hund)“ – oder Embryons desséchés – „Verkümmerte Embryonen“. Berühmt sind auch die skurrilen Spielanweisungen, mit denen er ab den 1910er-Jahren seine Klavierstücke spickte. Statt nüchterner Tempo- oder Dynamikangaben findet man bei ihm Sätze wie „Mit der Spitze deines Gedankens“, „postuliere in dir selbst“ oder „allein, für einen Augenblick“. In Heures séculaires et instantanées notierte er dem Pianisten augenzwinkernd ins Heft: „Gehen Sie nicht aus dem Haus“ und „Essen Sie nicht zu viel“. Und in Embryons desséchés soll eine Passage „wie eine Nachtigall mit Zahnschmerzen“ gespielt werden. Solche dadaistischen Einfälle waren in der klassischen Musikpublikation beispiellos – Satie brach bewusst mit den Konventionen und machte die Partitur selbst zum Kunstobjekt. Zeitgenossen lachten bei Konzerten oft an den falschen Stellen, irritiert von Saties schrägem Witz. Doch heute gelten diese bizarres indications als visionär: Sie nehmen Techniken der musikalischen Postmoderne vorweg und fordern uns heraus, Musik nicht immer wörtlich oder todernst zu nehmen.
- Ambiente-Pionier: Satie erfand quasi die Fahrstuhlmusik – allerdings im positivsten Sinne. 1917 prägte er den Begriff Musique d’ameublement (Möbel- oder „Einrichtungsmusik“) für klingende Hintergrundmusik. Seine Idee: Musik kann auch als atmosphärische Raumausstattung dienen, die nicht aktiv gehört wird, sondern unaufdringlich das Ambiente formt. In Kooperation mit dem Maler Fernand Léger und anderen führte Satie solche Möbelmusik in kurzen Stücken auf, beispielsweise als Pausenfüller bei Ausstellungen – ein Konzept, das erst Jahrzehnte später von Ambient-Komponisten wie Brian Eno wieder aufgegriffen wurde. Auch schrieb Satie 1924 Filmmusik im modernen Sinne: Für den dadaistischen Kurzfilm Entr’acte von René Clair komponierte er die Begleitung (Cinéma betitelt) präzise Szene für Szene im Takt der Bilder – einer der frühesten Versuche, Ton und Film synchron zu verschmelzen. Insgesamt kann man Satie mit seinem Sinn für musique d’ameublement durchaus als Vorläufer der Ambient- und Hintergrundmusik-Kultur betrachten.
- Avantgarde-Extreme: Immer wieder lotete Satie radikale künstlerische Konzepte aus. Das berühmteste Beispiel ist Vexations (um 1893), ein kurzes, disharmonisches Klavierstück, das – so vermerkte Satie kryptisch über der Notenzeile – 840 Mal in Folge zu spielen sei. Rechnet man das aus, käme man auf über 18 Stunden ununterbrochene Wiederholung – ein absurdes, fast meditativ-qualvolles Experiment, das zu Saties Lebzeiten niemand ernsthaft aufführte. Erst 1963 wagte sich eine Pianistengruppe um John Cage an die vollständige Realisation von Vexations in New York. Heute wird das Stück als frühes Beispiel konzeptueller Musik und Proto-Minimalismus gefeiert – ein weiterer Beleg dafür, wie weit Satie seiner Zeit voraus war.
- Bühnen-Innovationen: Saties Spätwerk brachte einige der ungewöhnlichsten multimedialen Projekte der 1920er hervor. Zusammen mit dem Maler/Autor Francis Picabia entwickelte er 1924 das Ballett Relâche (übersetzt „Heute keine Vorstellung“), eine dadaistische Anti-Show, die Ballett, Film und Konzert verschmolz. Während der Aufführungen von Relâche wurde im Theater als Zwischenspiel der surrealistische Stummfilm Entr’acte gezeigt – ein wildes Treiben aus tanzenden Objekten, Jagden und visuellen Gags, bei dem Satie selbst in Bowlerhat durchs Bild hüpft. Die Musik zu Relâche und Entr’acte stammte von Satie, und er garnierte sie mit Zitaten populärer Melodien jener Zeit, was das Stück frech gegen den Strich bürstete. Diese Mischung aus „hoher“ Kunst und Vaudeville-Elementen war für 1924 unerhört und kann als ein Vorläufer späterer multimedialer Performancekunst gelten. Satie bewies mit solchen Projekten einmal mehr seinen Erfindergeist: Während andere noch der hochheiligen Oper nacheiferten, sprengte er die Grenzen zwischen E und U, zwischen Konzertsaal und Kino. Hochkultur mit Hupe und Humor – Satie inszenierte sie schon, bevor Begriffe wie Crossover, Dada oder Surrealismus allgemein bekannt waren.
Kurz gesagt: Sein minimalistischer, rebellischer Geist – als Gegenentwurf zur romantischen Opulenz eines Wagner – war in gewisser Weise unmissverständlich punkig. Viele seiner Zeitgenossen mochten ihn als spleenigen Spinner abtun, doch in Wahrheit hat Satie der Musik Richtungspfeile weit in die Zukunft gestellt. Er leitete mit seinem Werk einen Stilwandel ein, weg von der Schwere des 19. Jahrhunderts hin zu etwas völlig Neuem. Nicht umsonst nennt man ihn heute einen „Surrealisten vor dem Surrealismus“ und „Konzeptkünstler vor der Konzeptkunst“. Komponisten von Francis Poulenc über John Cage bis Steve Reich haben von Satie Impulse erhalten. Sein Einfluss reicht sogar in die Populärmusik – man denke an ambient-artige Klänge oder die Idee des „zufälligen“ Klangereignisses, die experimentelle Rock- und Elektronik-Musiker im 20. Jahrhundert aufgriffen. Satie war eben immer ein paar Schritte voraus und bleibt deshalb bis heute modern.
Kurios und kurzweilig: Anekdoten
Ein paar Anekdoten dürfen bei diesem schillernden Charakter nicht fehlen – Satie bot reichlich Stoff für Legenden. Hier einige besonders skurrile Episoden aus seinem Leben:
- Hammer, Schirm und Melone: Satie legte nächtliche Fußmärsche von Montmartre nach Arcueil (seinem späteren Wohnort) zurück – stets perfekt gekleidet mit Melone und immer mit einem Regenschirm ausgerüstet, egal bei welchem Wetter. Doch nicht nur das: Er trug in der Manteltasche außerdem einen Hammer mit sich herum. Auf den dunklen Pariser Straßen wollte er für alle Fälle gewappnet sein. Der Hammer diente ihm zur Selbstverteidigung – und unterstrich zugleich seinen Ruf als schrulliger Einzelgänger, der buchstäblich einen Hammer hatte. (CH: That s my style!)
- Müll, Musikinstrumente und hundert Schirme: Satie war ein Sammler von Kuriositäten – oder sagen wir ruhig: ein Messie avant la lettre. In seinem letzten Zimmer in Arcueil fand man nach seinem Tod über 100 Regenschirme sowie Unmengen alter Zeitungen, die sich bis unter die Decke stapelten. Besonders erstaunlich: Mitten in all dem Staub ragten zwei Klaviere empor, die übereinandergestellt waren. Das obere diente nicht etwa zum Musizieren, sondern ganz pragmatisch als Briefablage für seine Korrespondenz und Notizzettel. Man kann sich die Szenerie ausmalen – ein anarchisches Stillleben aus Musikinstrumenten und Müll, in dem dennoch täglich ein adrett gekleideter Gentleman hauste.
- Gastronomische Eigentümlichkeiten: Saties Humor und Exzentrik machten auch vor seinem Alltag nicht halt. In seinen selbstverfassten „Memoiren eines Amnesisten“ beschreibt er mit todernster Miene seine strikte Diät aus weißen Speisen: „Meine einzige Nahrung besteht aus weißen Lebensmitteln: Eier, Zucker, geriebene Knochen, das Fett toter Tiere, Kalbfleisch, Salz, Kokosnüsse, Huhn in weißem Wasser gekocht, verschimmeltes Obst, Reis, Rüben, Würstchen in Kampfer, Gebäck, Käse (weiße Sorten) etc.“ – und natürlich trank er „gekochten Wein mit Fuchsiensaft gemischt“. Ob das der Wahrheit entsprach oder nur typischer Satie-Nonsense war, sei dahingestellt. Jedenfalls pflegte er gern den Ruf des spleenigen Kauzes.
- Notationswitze: Ich habe es schon erwähnt – Satie schrieb Anweisungen in seine Noten, die ihre ganz eigene Komik entfalten. Etliche Beispiele geistern durch Musikeranekdoten: Da fordert er den Pianisten auf, einen Abschnitt „langweilig, ganz für sich allein“ zu spielen, oder er vermerkt zynisch „ohne zu erröten“, „indifferent, aber geschmackvoll“ über einer Passage. In Sports et divertissements (1914) rät er: „Bewahren Sie die Selbstkontrolle, die Sie über sich selbst haben.“ Und an anderer Stelle: „Spielen Sie dies mit tiefster Überzeugung (und schreiben Sie mir, was dabei in Ihrem Kopf vorgeht).“ – Saties Publikum sollte also nicht nur hinhören, sondern manchmal auch mitlesen. Sein Notationshumor ist längst legendär und trägt zum Kult um seine Person bei.
- Späte Ehren und spitze Zungen: Saties Ruhm als Komponist kam – wie erwähnt – erst spät. 1911 war so etwas wie sein Durchbruchjahr, initiiert durch Ravel und Co.. Danach galt er plötzlich als inspirierende Kultfigur für die musikalische Avantgarde. Doch natürlich blieb Satie Satie: Als man ihm im reifen Alter von 54 die Ehre zuteilwerden ließ, einen Orden der Ehrenlegion zu bekommen, brüstete er sich, er habe diese Auszeichnung schon dreimal abgelehnt, obwohl man ihn nie dafür vorgeschlagen hatte – ein typischer Satie-Scherz. Und als 1920 sechs junge Komponisten in Paris (später Les Six genannt) medienwirksam Cocteaus Satie-Verehrung nacheiferten, reagierte Satie mit einer bissigen Veröffentlichung namens „Wie man sich irrt, wenn man sich über mich einig ist“. Diese Mischung aus Understatement und Provokation machte ihn zu Lebzeiten nicht gerade wohlhabend oder berühmt, verschaffte ihm aber enorme Anerkennung unter Künstlern. Und die wirkte sich aus: Ab 1911 bemühten sich prominente Fürsprecher wie Debussy, Ravel und später Poulenc und Stravinsky aktiv um Aufführungen seiner Werke. So erlebte Satie kurz vor Schluss doch noch den süßen Geschmack des Erfolgs – auf seine ganz eigene, schräge Art.
Endstation Arcueil
Die letzten Jahre verbrachte Satie zurückgezogen in Arcueil, einem bescheidenen Vorort südlich von Paris. Sein Domizil dort war kaum mehr als eine spärlich möblierte Kammer, die er 1898 bezogen hatte und bis zu seinem Lebensende nicht mehr wechselte. Über 27 Jahre lang ließ er keinen einzigen Besucher über die Schwelle – niemand aus seinem Freundeskreis durfte je seine Wohnräume betreten. Erst als er 1925 schwer erkrankte und ins Hospital musste, lüftete sich das Geheimnis um diese vier Wände. Nach Saties Tod am 1. Juli 1925 betraten sein Bruder Conrad und einige enge Freunde (darunter Darius Milhaud und der junge Dirigent Robert Désormière) zum ersten Mal das Zimmer – und trauten ihren Augen kaum. Was sie vorfanden, war ein einziges Chaos: Die winzige Wohnung war vermüllt und verstaubt, voller alter Notenblätter, Briefe, Zeitungen und Gerümpel, das Satie jahrzehntelang aufgehäuft hatte. Bevor man überhaupt seinen Nachlass sichten konnte, mussten erst einmal zwei Wagenladungen Unrat aus dem Weg geräumt werden. Dabei machten die Freunde erstaunliche Entdeckungen: Mehrere längst verschollen geglaubte Partituren tauchten zwischen den Papieren wieder auf. Und natürlich offenbarte sich auch Saties skurriler Hausrat: In allen Ecken lehnten die erwähnten Dutzend Regenschirme, an Haken hingen zig Cord-Anzüge identischer Machart, und mittendrin standen zwei verstimmte Klaviere, eines oben auf dem anderen, bis unters Dach vollgestopft mit Briefen und Nippes. Dieses posthume Stillleben war so bizarr, dass es selbst Saties engste Weggefährten schockierte – niemand hatte geahnt, wie sehr er in seiner eigenen Welt gelebt hatte. Gleichzeitig zeichnet es das berührende Bild eines Mannes, der nach außen tadellos funktionierte (er erschien ja täglich geschniegelt in der Stadt), aber im Privaten ein Eigenbrötler und Sonderling war, der nichts wegwerfen konnte.
Die Ursache für Saties endgültigen Zusammenbruch war – wenig überraschend – sein jahrelanger Alkoholkonsum. Er hatte einen robusten Ruf als Trinker: Schon in den Montmartre-Jahren hockte er täglich mit den Künstlerfreunden bei Absinth und Weißwein, später galt Bier (angeblich mit Cognac gemischt) als sein Grundnahrungsmittel. Anfang 1925 holte ihn dieses Laster ein: Seine Leber versagte, er entwickelte eine schmerzhafte Pleuritis (Brustfellentzündung). Am 15. Februar 1925 wurde er auf Betreiben wohlhabender Gönner in ein Pariser Krankenhaus eingeliefert. Dort rang er mehrere Monate mit dem Tod – laut Berichten mit viel Humor und Eigensinn bis zuletzt. Jean Cocteau, Darius Milhaud, Georges Braque und andere kümmerten sich in den letzten Wochen rührend um ihn , doch retten konnte ihn niemand mehr. Erik Satie starb am Abend des 1. Juli 1925 im Hôpital Saint-Joseph. Sein Grab in Arcueil ziert ein schlichtes weißes Kreuz. Damit ging ein launisches Genie von uns, dessen musikalisches Vermächtnis erst posthum in vollem Umfang entdeckt wurde.
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Nach all den Geschichten dürfte klar sein: Es ist an der Zeit, Erik Satie anzuhören. Stell dir einen Cocktail aus Gymnopédie No. 1, Gnossienne No. 3 und dem wilden Ballettstück Parade zusammen – und ab aufs Sofa damit, ein Glas Calvados in der Hand (oder Bier, Absinth… ganz wie du magst). Saties Klangwelten laden zu einer gemütlichen Reise ein, kreuz und quer durch Stimmungen und Zeiten. Du wirst staunen, wie melancholisch-minimalistisch eine Gymnopédie klingt, wie mysteriös-verträumt die Gnossiennes nachhallen, und wie absurd-witzig Parade daherkommt – inklusive tackernder Schreibmaschine und hupender Autohupe im Orchestergraben. Diese Playlist der Extreme zeigt Satie in all seinen Facetten: vom kontemplativen Klingklang für einsame Stunden bis zum verrückten Musiktheater, das seiner Zeit voraus war. Ideal für einen entspannten Abend, an dem man die Gedanken schweifen lassen kann.
Erik Satie war kein Spießer – sondern ein stiller Revolutionär: modisch wandelbar, musikalisch originell, sozial ein Eigenbrötler und dennoch radikal in seinen Ideen. Ein Punk der Belle Époque, der seinen Weg unbeirrt und unorthodox ging – mal kraftvoll, mal poetisch, mal verspielt absurd, aber immer er selbst. Viele Trends der Moderne hat er vorweggenommen oder inspiriert, von der Konzeptkunst über den Surrealismus bis zur Minimal Music. Kurz: Satie war der Andersmacher par excellence im Paris des frühen 20. Jahrhunderts.
Also, hoch mit dem Glas, Spotify an – und feiern wir den widerspenstigen Klang-Poeten Erik Satie! Auf die nächsten 100 Jahre inspirierender Andersartigkeit.
Literatur-Tipp zum Schluss
Zum 100. Todestag lohnt ein Blick in die neueste Satie-Lektüre: Ian Penman: Erik Satie – Three Piece Suite (erschienen 2025). Dieses Buch – eine Mischung aus Biografie, Essay und persönlicher Hommage – zeichnet ein imposantes und humorvolles Porträt des ungewöhnlichen Sterns am Pariser Kulturhimmel. Penman feiert darin Saties scheinbar leichte Musik und zeigt, welche verborgenen Tiefen und welchen weiten Einfluss sie hat – von der Klassik bis zur Populärkultur. Ein empfehlenswertes Werk für alle, die nach diesem Blogartikel noch tiefer in Saties verrückte Welt eintauchen möchten.
Also ich mag diesen skurilen Künstler und seine Arbeit. Sie hat mich schon immer seltsam berührt. Ich mag sie einfach. Irgendwie kann ich Satie und seine Sichtweisen auch oft verstehen.